Viele syrische Intellektuelle haben das Land bereits verlassen. Wer bleibt, vereinsamt und kämpft, den eigenen Tod vor Augen, ums Überleben. Khalid Khalifa ist einer, der geblieben ist – obwohl er als international bekannter Schriftsteller viele Möglichkeiten gehabt hätte, dem Horror zu entfliehen. Sein Rettungsanker ist das Schreiben. Aber, so fragt er sich, hat das Schreiben Sinn, wenn das Leben im Warten auf den Tod besteht?

Nahezu täglich lege ich die gleiche Strecke zurück, ich gehe ins gleiche Café und in die gleiche Bar. Wir haben uns daran gewöhnt, mit dem zu leben, was noch da ist. Ich treffe mich mit den Freunden, die noch da sind und deren Anzahl die Finger einer Hand kaum überschreitet. Alle sind fort, alles ist mir fremd geworden, die Farben der Stadt, ihre Gerüche, die Straßen, Gebäude und die wenigen Parks. Auf den Gesichtern der Menschen lässt sich die Angst vor der Gegenwart und der Zukunft ablesen. Es ist eine andere Angst als jene, die die Syrer mit dem ersten Schrei nach Freiheit begraben haben.

Wie alle anderen auch fühle ich mich inzwischen kraftlos. Ich habe aufgehört zu fragen, was morgen passiert. Alles wird sich wiederholen, das Bombardement wird auch morgen nicht aufhören, die Sirenen der Krankenwagen werden nicht verstummen, die Schüsse gehören wie selbstverständlich zum Himmel über der Stadt, sie werden wie üblich am Abend einsetzen und vielleicht bis zum Morgen anhalten. Ein einziger Tag ohne Bombardement, ohne Schüsse oder Krankenwagen beschwört die Frage herauf: »Was ist passiert?« Immer ist die Zeit zu kurz, um aufzuatmen. Seit etwa eineinhalb Jahren haben die Schüsse und das Bombardement nicht aufgehört. Es gibt also keinen Grund zur Aufregung und zu der optimistischen Erwartung, dass der Zug des Todes anhalten wird. Niemand interessiert sich mehr für den eigenen Tod oder für den der anderen.

Die Checkpoints herausfordernd, laufe ich nachts durch die Straßen auf der Suche nach der Stadt, die ich kenne. Ein unvermittelt einsetzender Regen oder ein Lied im Radio, das ich seit Langem nicht mehr gehört habe, erheitern mich. Doch es vergeht nicht viel Zeit, bis mir wieder bewusst wird, in welcher Trostlosigkeit wir leben. In den tausend Tagen seit Beginn der Revolution habe ich nachts in Damaskus nur streunende Hunde und gähnende Soldaten an den Checkpoints gesehen.

Während ich morgens ewig vor ebendiesen Checkpoints warte, beobachte ich die unbeteiligten Gesichter. Ich versuche mir ihre Vergangenheit auszumalen. Täglich stelle ich meine Geduld auf die Probe, und wenn ich im Strom der sich den Checkpoints nähernden Autos zu versinken drohe, denke ich, dass wir alle in der gleichen Falle sitzen. Keine Chance zu fliehen, keine Chance auszuweichen. Bei dem Gedanken, in die Falle getappt zu sein, wird mir die Brust eng. Ich übe mich in Geduld, beantworte Anrufe, auf die ich noch nicht reagiert hatte, schreibe Briefe an meine Freunde, manchmal schicken wir uns Witze per SMS. Ich versinke dann in Gelächter, und es ist mir egal, was die anderen, die mich allein im Auto lachen sehen, denken könnten. Es ist nichts Außergewöhnliches mehr, einen ganz normalen Menschen zu treffen, den man seit Jahren kennt und der jetzt völlig verändert ist. Vielleicht ist er verrückt geworden und erzählt begeistert vom Tag der Auferstehung oder er teilt einem auf der Stelle mit, dass die letzten tausend Jahre eine Illusion gewesen seien und man nun zum ersten Mal vor dem Augenblick der Wahrheit stehe. Mein Anblick wird also nicht eigenartiger sein als der meiner Leidensgenossen, die gleichfalls darauf warten, den Checkpoint zu passieren.

Alle versuchen die Augenblicke des Frohsinns festzuhalten, doch sogar das Lachen hat sich verändert. Unser Lachen passt zum Krieg. Wir brechen unversehens in hysterisches Gelächter aus, doch plötzlich fängt einer an zu weinen. Vielleicht erinnert er sich an eine Geliebte, die das Land verlassen hat oder die getötet wurde oder die in einer Stadt oder einem Viertel eingeschlossen ist. Er erinnert sich an einen Freund, der verhaftet wurde und verschwunden ist …, denn jeder Verhaftete ist für uns verschwunden. Die Rückkehr eines Inhaftierten ist ein Ereignis, das wir mit großem Ernst begehen. Wir feiern, lachen, tauschen Küsse und Weinen, berühren den Körper des Rückkehrers, um uns zu versichern, dass er unversehrt ist. Wir rufen alle Ärzte an, die wir kennen, um ihm ärztlichen Beistand zu geben. Wir glauben nicht, dass unser Freund wohlbehalten zu uns zurückgekommen ist. Und wir glauben genauso wenig, dass er jetzt wieder unter uns weilt. Wir brauchen einige Tage, um uns an diese Rückkehr zu gewöhnen. Und wieder einmal ist es nur das Lachen, das uns am Leben hält.

Nichts gleicht mehr unserer Vergangenheit oder gar den ersten Tagen der Revolution. Die hitzigen Diskussionen der ersten Zeit sind verstummt, das Reden ist sinnlos geworden, und das Überleben nimmt einen großen Raum im Denken aller ein. Gestern erzählte mir ein Freund, dass in seinem Garten eine Granate genau neben dem Tisch niederging, um den wir uns vergangenen Sommer geschart hatten, um zu diskutieren und zu streiten. Wieder kann ich nur lachen, und er schließt sich mir an. Wir machen uns über jemanden lustig und setzen die Szene aus der Erinnerung wieder zusammen. Wir sind noch nicht gestorben, es gibt also keinen Grund, sich aufzuregen.

Granate in Damaskus

Oft war der Tod während der letzten eineinhalb Jahre ganz nah. Wir haben uns mit Leichtigkeit daran gewöhnt, mit ihm in einem Bett zu schlafen – obwohl wir uns selbst gegenüber beteuerten, es nicht zu tun. Wir haben keine Tränen mehr. Wenn wir in den Spiegel schauen, müssen wir uns eingestehen, dass wir uns mehr verändert haben, als wir selbst ertragen können. Alles ist für uns Normalität geworden. Wir haben nicht mehr das Gefühl, Helden zu sein oder etwas Besonderes in der Ära einer außergewöhnlichen Revolution. Wir verschieben jedes Gespräch über die Zukunft des Landes auf eine Zeit, die irgendwann später kommen wird. Wir sind sicher, dass sie kommt, aber wir sind nicht sicher, dass wir überleben und sie mit eigenen Augen sehen und erleben werden.

Alle warten auf jenen Augenblick, auf das Ende des Regimes, auf eine politische Lösung, die zu einem neuen Syrien führt, aber dann wird sich auch die Art, dies zu feiern, sehr verändert haben. Wir werden uns nicht mehr auf öffentlichen Plätzen versammeln und aus voller Kehle nach jener Freiheit schreien, für die die Syrer teuer bezahlt haben. Wir werden uns stattdessen einschließen und in Schluchzen ausbrechen, weil wir nicht glauben können, dass der Krieg vorbei ist.

Wir werden das Gefühl haben, feige zu sein, weil wir nicht gestorben sind; feige, weil wir uns der Freiheit erfreuen, für die Hunderttausende Syrer ihr Leben gegeben haben. Wir werden diesen Kloß im Hals verspüren, weil wir nicht auf den Listen der Getöteten stehen, und unser Kloß wird noch größer, wenn wir begreifen, dass wir alt geworden sind und nicht mehr die Kraft haben, zu einem Friedhof zu gehen und zum letzten Mal Blumen auf die Gräber unserer Lieben zu legen, bevor wir sie und ihre Familien ihrem Schicksal überlassen. Nichts wiegt den Augenblick auf, in dem der Traum stirbt.

Wir wissen, dass jene, die unser Blut und das der Getöteten verkauft haben, über die Grenzen kommen werden, bewaffnet mit Worten und Schecks, und dass jene unser Leben ein weiteres Mal beherrschen werden.

Hunderte Male malten wir uns unseren Sieg aus. Überall flatterten Schmetterlinge. Nein, wir haben nicht geträumt, alle Augen sagten uns, dass der Traum ein Teil der Revolution sei. Alle Mutigen, die sich den Schüssen mit nackter Brust entgegenstellten, alle genialen Gedanken, die sich auf den Straßen und Plätzen breit machten, sagten uns: »Ja, es wird ein großartiger Sieg, und auf den Plätzen wird gesungen werden.« Bis jetzt können wir nicht glauben, dass MIGs und Scudraketen unseren Himmel und unser Leben auch in Zukunft besetzen werden.

Wir haben nicht damit gerechnet, dass unser Blut so billig sein würde. Ja, wir lebten in einer Zeit, in der Bestialität alles bestimmte. Jetzt flüchten wir vor den Bildern, wollen zurück zu den Anfängen der Revolution, zu ihrer früheren Unschuld. Wir haben noch so viel zu tun, um unseren Weg bis zu Ende zu gehen.

Jetzt kommt mir der Gedanke, dass das Schreiben, das mich enttäuscht hatte, das nicht in der Lage war, die Mutter eines Getöteten zu trösten oder einem Verwundeten zu helfen oder einem Kind, das in einem Zelt lebt, alles ist, was ich brauche. Es ist die einzige Therapie, die mich davor schützt, zu einem Toten zu werden oder Selbstmord zu begehen.

Ich erlebe wieder diese frühere Angst, eines Tages die Fähigkeit zu schreiben zu verlieren. Ich war davon überzeugt, dass mir, wenn ich nicht schriebe, nichts anderes übrig bliebe, als mich umzubringen. Und nun kehren diese Gedanken zu mir zurück. Aber vielleicht kann mich das Schreiben retten und mir dabei helfen, den Menschen in meiner Nähe beizustehen. Wenn ich schreibe und den Tod um mich herum ignoriere, werde ich gefälliger sein und stärker.

Ich nehme Reißaus vor den Journalisten, die stundenlang mit uns reden wollen und am Ende doch nur schreiben, was ihr Gewissen beruhigt, nämlich dass dieses Sterben sie nichts angeht. Man kann das Bild nur allzu leicht verfälschen. Wer fordert Rechenschaft von ihnen, wenn sie sagen, dass es sich um einen Bürgerkrieg handelt? Und wer fordert Rechenschaft, wenn sie uns als eine Ansammlung von Stämmen, Clans und Religionsgemeinschaften sehen? Natürlich niemand! Mich überkommt wieder das Bedürfnis, über sie und über moralische Werte zu lachen, und ich habe keine andere Möglichkeit zu schreien als zu schreiben.

Wieder plane ich meinen Tag, denke darüber nach, dass ich seit Tagen nicht vor der Tür war. Ich koche für Freunde, die meine Wohnung, welche nur ein paar hundert Meter von Barseh und Kaboun entfernt liegt, nicht mehr erreichen können, weil weder die Flugzeuge noch die Artillerie aufhören, die beiden Stadtteile zu beschießen und zu zerstören. Allmorgendlich beginnt meine Wohnung zu zittern; den ganzen Sommer über blieben die Fenster geöffnet, damit die Scheiben nicht zerbarsten. Die Geräusche und der Anblick der Granaten, die nur einige Meter entfernt einschlagen, sind mir vertraut geworden. Ich habe keine Macht und keine Kraft mehr; es ist, als wartete ich darauf, an die Reihe zu kommen.

Zeit meines Lebens war ich nie in Gegenstände verliebt, erst in den letzten Monaten begann ich, eingehend meinen Schreibtisch zu betrachten, den ein verrückter Schreiner, der sein Handwerk liebt, nach meinem Entwurf gefertigt hat. Ich hatte ihm gesagt, wir sollten Walnussholzbretter kaufen, wie die Metzger sie benutzen, lang und breit, um daraus einen primitiven Schreibtisch zu zimmern. Ich mochte nicht, dass das grobe Walnussholz glatt gehobelt wurde, ich mochte, dass sein Duft mich während des Schreibens umgibt.

Ich betrachte mein Bett, ein intimer Ort, an dem ich Frauen sagte, dass ich sie von ganzem Herzen liebe. Ich habe sie tatsächlich geliebt und war ihnen zu Dank verpflichtet, dass sie das Bett mit mir teilten.

Ich betrete die Küche und betrachte die dort hängenden Teller, Kaffeetassen und Weingläser. Ich bin also allein. Meine Freunde sind außerhalb des Landes, und wer geblieben ist, ist wie ich mit dem Überleben beschäftigt. Auch sie blicken liebevoll auf ihre Gegenstände, von denen sie nicht glauben, dass sie Bestand haben werden. Jeder Blick ist für mich ein Blick des Abschieds.

Wenn ich morgens aus dem Bett aufstehe und in die Küche gehe, habe ich das Gefühl, dieses morgendliche Ritual zum letzten Mal auszuführen. Zum letzten Mal werde ich meinen Kaffee zubereiten, ins Bett zurückkehren und die Lautstärke des Fernsehers im Wohnzimmer so aufdrehen, dass ich die Nachrichten hören kann, ohne die Bilder zu sehen. Wenn ich ihn ausschalte, breitet sich Stille aus – oder das laut und deutlich vernehmbare Geräusch der Granaten. In den ersten Monaten ließ es mich tagelang nicht schlafen. Nun leiden wir alle unter einem unruhigen, immer wieder unterbrochenen Schlaf. Ich beklage mich bei meinen Freunden, und sie erzählen mir von den gleichen Symptomen. Wir alle schlafen nur ein oder zwei Stunden, und wenn wir aufwachen, wird der Versuch, wieder einzuschlafen, zur Qual.

Aber auch daran haben wir uns gewöhnt. Wir gehen erst schlafen, wenn wir jegliche Kraft zum Wachbleiben verloren haben. Ich interessiere mich jetzt wie die anderen auch nicht mehr für den Schlaf. Das gegenseitige Erzählen der Alpträume ist Teil unseres Lebens geworden.

Ich trinke meinen Kaffee und denke, es sei das letzte Mal. Ich gehe ins Café, in dem ich zu schreiben pflege, und versinke in der Arbeit. Und ich versuche mich davon zu überzeugen, dass es meine einzige Erlösung ist. Ich erwarte, dass meine Freunde mich anspornen wie ein kleines Kind, das an einem Schulwettbewerb teilnimmt. Ein paar Tage später stelle ich fest, dass das Schreiben keinen Sinn hat, wenn das Leben aus einem langen Warten auf den Tod besteht.