Es gibt keine Checkliste für Integration, auf der wir einzelne Punkte als erledigt abhaken können. Ich kann sie als Prozess, Funktion oder Ziel beschreiben, als Suche nach Gemeinsamkeiten oder als Anpassung an die „deutsche Leitkultur“. Um zu verstehen, was Integration für jeden Einzelnen von uns bedeutet und wie sie in Deutschland gelingen kann, lohnt sich ein Blick in die Wissenschaft, Politik und unsere Gesellschaft.

Integration – Drei Sichtweisen

1. Wie die Forschung mit dem Thema „Integration“ umgeht

Wenn auf Berlins Straßen israelische Flaggen brennen, Flaschen durch Fenster von Flüchtlingsheimen fliegen oder Schwarze häufiger von Polizisten kontrolliert werden als Weiße, dann ist Integration wohl gescheitert. Oder? Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit sind nur ein paar der Erscheinungen, die von Forscher als Zeichen für „Desintegration“ wahrgenommen werden. Viel interessanter sei aber die Frage nach Zugehörigkeit, findet Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan, die Integrationsforschung an der Humboldt-Universität in Berlin lehrt. „Und sie wird derzeit nicht nur von Migranten und Migrantinnen thematisiert, sondern auch sehr stark von Ostdeutschen“, sagt Foroutan.

Was die Berliner Sozialwissenschaftlerin zur Sprache bringt, ist vielleicht eine der wichtigsten Erkenntnisse und steht deshalb direkt am Anfang dieses Textes: Integration beschränkt sich nicht auf Einwanderer, sie bezieht sich auf jeden Einzelnen, der sich als Teil einer Gesellschaft sehen möchte. Egal ob Migrant, Flüchtling, West- oder Ostdeutscher. Integration funktioniert als gesamtgesellschaftliche Idee und Aufgabe und lässt sich nicht auf einzelne Gruppen begrenzen. Beim Lesen dieses Artikels sollte man das im Hinterkopf behalten.

Was erfolgreiche Integration genau bedeutet, ist aber auch in der Wissenschaft nicht klar definiert. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist Integration zunächst ein soziologisches Konzept. Der Soziologe Richard Münch beschreibt in seinem Essay „Elemente einer Theorie der Integration moderner Gesellschaften“ Integration als einen  „Zustand der Gesellschaft, in dem alle ihre Teile fest miteinander verbunden sind und eine nach außen abgegrenzte Einheit bilden“. Münch hielt das bereits im Jahr 1997 fest. Die heutige Integrationsforschung beschäftigt sich vor allem mit der Frage, ob und wie ethnische Minderheiten sowie Migranten als neu hinzugekommene Akteure Teil der Einwanderungsgesellschaft oder mit den anderen Teilen dieser Gesellschaft verbunden werden. Es gibt verschiedene Indikatoren, mit denen man Integration misst. Eine Diskussion darüber fand 2010 im Europäischen Parlament statt. Ergebnis waren die so genannten „Zaragoza-Indikatoren“, sie beziehen sich auf die Felder Arbeitsmarkt, Bildung, soziale Inklusion, aktive Bürgerschaft und Willkommenskultur.

Wie am Punkt „Willkommenskultur“ abgelesen werden kann, bringt es uns nicht weiter, Integration nur für Migranten zu denken, auch wenn das häufig der Tenor in Berichterstattung und politischer Debatten zu sein scheint. „In Wahrheit findet nicht eine Debatte über Integrationsleistungen, sondern eine Debatte über die deutsche Werteordnung statt“, sagt die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan. Die Forschung startete in Vergangenheit einige Versuche als Vermittler zwischen Gesellschaft und Politik aufzutreten. Befragungen in der Bevölkerung sollen deutlich machen, was nicht anhand von Kategorien gemessen werden kann: die soziale, strukturelle und emotionale Ebene von Integration und inwieweit eine Gesellschaft dann auch wirklich bereit ist, Personen zu integrieren, die nicht schon immer Teil dieser Gesellschaft waren.

 

2. Wie „Integration“ gelebt und erlebt wird

Um das herauszufinden, sollte man mit allen möglichen Menschen sprechen, die sich zu dieser Gesellschaft zählen. Die Studie „ZuGleich – Zugehörigkeit und Gleichwertigkeit“ des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld hat genau das getan. Zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten, einmal von November 2013 bis Januar 2014 und ein Jahr später von Dezember 2015 bis Januar 2016, wurden über 3000 Menschen mit und ohne Migrationshintergrund danach gefragt, wer ihrer Meinung nach zur deutschen Gesellschaft gehört. Ziel der Studie war es, Einstellungen, Meinungen, Gefühle und Vorstellungen von Bürgern gegenüber einer Reihe von Gruppen in Deutschland zu ermitteln und so herauszufinden, welche ein- und ausschließenden Identitäten es in einer heterogenen Gesellschaft wie der deutschen gibt.

Dabei wurde auch darauf geachtet, wie sich die Antworten der Befragten mit und ohne Migrationshintergrund voneinander unterscheiden. So nannten beispielsweise 97 Prozent der Befragten ohne Migrationshintergrund 2015/2016 die Achtung politischer Institutionen und Gesetze als Kriterium für die Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft. Für 93 Prozent ist laut Studie die deutsche Sprache ausschlaggebend. Unter den Befragten mit Migrationshintergrund betonten sogar 98 Prozent, dass die deutsche Sprache Voraussetzung für eine deutsche Zugehörigkeit sei.

Eine wichtige Rolle spielen aber auch kulturelle Unterschiede, wenn es um das „Dazugehören“ geht. Laut Studie ist der Anteil der Menschen in Deutschland, die Integration sogar als komplette Anpassung der zu Integrierenden sehen, über den Befragungszeitraum gewachsen – obwohl aus rein wissenschaftlicher Sicht diese Anpassung gar nicht unter Integration fällt, sondern als das Gegenteil, nämlich „Assimilation“, gesehen wird.

2015/2016 gab es scheinbar weniger Befürworter eines so genanntes „Integrationskonzeptes“, sprich für den Erhalt der kulturellen Identität. Eine deutliche Mehrheit unter den Befragten mit und ohne Migrationsbiografie fordert die einseitige Anpassung von Migranten und Migrantinnen an die deutsche Kultur.

Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) widmete sich 2017 einer ähnliche Frage: Wie gelingt Integration? Anders als die Uni Bielefeld befragten die Forscher dazu nicht die deutsche Bevölkerung, sondern Menschen, die noch nicht sicher wissen, ob sie überhaupt Teil dieser Gesellschaft werden dürfen.

In ausführlichen Interviews erzählten 62 erwachsene Flüchtlinge ohne sicheren Aufenthaltsstatus aus Syrien, Afghanistan, Somalia, Pakistan, Albanien, dem Kosovo und Mazedonien,  was sie sich von einem Leben in Deutschland erhoffen. Viele der Befragten nannten neben dem Wunsch nach einer Wohnung, Arbeit und der Gewissheit darüber, ob sie letztlich in Deutschland bleiben dürfen, auch einen anderen Punkt: der Wunsch nach „persönlichen Begegnungen und zwischenmenschlichen Kontakten“. Damit gemeint ist nicht nur Kontakt mit Menschen aus demselben Herkunftsland oder freiwilligen Helfern, sondern auch mit Menschen aus der Mitte der deutschen Gesellschaft, soziale Kontakte mit Nachbarn und Leuten in einem ähnlichem Alter. Sollte sich die Forderung der CSU durchsetzen, Asylbewerber künftig „konzentriert an einem Ort zu halten“ und Menschen hauptsächlich in sogenannten Ankunfts- und Rückführungszentren unterzubringen, wie es sie Manching und Bamberg bereits gibt, könnte das auch der Integration von Menschen mit guter Bleibeperspektive enorm schaden.

Werfen wir also einen Blick in die Politik. Die soll ja letztlich die Rahmenbedingungen für eine funktionierende Integration schaffen.

 

3. Staatliche Maßnahmen, die zur Integration von Migranten und Geflohenen beitragen sollen

Nicht nur Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan sieht Integration erst dann erreicht, wenn Anerkennung, Chancengleichheit und Teilhabe für alle gelten. Auch Martin Schulz äußerte sich in seiner Grundsatzrede zur Integrationspolitik der Sozialdemokraten im August 2017 sehr ähnlich: „Wir sind eine Einwanderungsgesellschaft“, sagte der Parteivorsitzende der SPD darin immer wieder. Er sehe Deutschland als „buntes Haus“, daraus erwachse eine Verantwortung, Flüchtlinge zu integrieren und gleichzeitig die Teilhabe von Deutschen mit Migrationshintergrund zu verbessern. Laut Schulz gelinge Integration nur über eine vernünftige Bildungs- und Sozialpolitik, die sich an alle richtet: „Wenn wir die Chancen für alle erhöhen, kommt das auch der Einwanderungsgesellschaft als Ganzes zugute“. So ähnlich steht es auch im Sondierungspapier von Union und SPD – Es gehe darum, „den sozialen Zusammenhalt in unserem Land stärken und die entstandenen Spaltungen überwinden“.

Doch was tut die Politik konkret, um Chancengleichheit zu erreichen und Integration zu fördern?

Im Sommer 2007 stellten  Bund, Ländern, Kommunen, Vertreter von gesellschaftlichen Gruppen und Migranten während eines Nationalen Integrationsgipfels einen so genannten „Nationalen Integrationsplan“ auf. Darin geht es neben freiwilligen Verpflichtungen von Unternehmen zu mehr „kultureller Vielfalt“ in den Reihen der Angestellten bis hin zu konkreteren Maßnahmen durch Sprach- beziehungsweise Integrationskurse und spezielle Ausbildungsprogramme. Im Sommer 2016 verabschiedeten Bundestag und Bundesrat dann auch ein Integrationsgesetz, in dessen Fokus ebenfalls Bildung und Arbeit stehen. Die Politik misst Integration am Sozialleben, Bildung, Einkommen, Wohnsituation, Rechtsstatus und Gesundheit. Integrationspolitik versucht rechtliche Gleichbehandlung zu schaffen, Diskriminierung abzubauen, gegenseitige Akzeptanz und Anerkennung zu fördern.

Seit 2005 – das Jahr, in dem Deutschland ein „Zuwanderungsgesetz“ bekam und sich somit offiziell als „Einwanderungsgesellschaft“ bezeichnen durfte – existiert im Kanzleramt auch die Stelle von Aydan Özoguz. Sie ist Integrationsbeauftragte der Bundesregierung und somit direkt für die Gestaltung der Integrationspolitik zuständig. Özoguz äußerte sich in Vergangenheit kritisch gegenüber dem ideologisch aufgeladenen Begriff der deutschen „Leitkultur“. Statt sich über „Klischees des Deutschseins“ zu streiten, gehe es darum das Verständnis von Einwanderern über die politische Kultur in Deutschland zu stärken. Sie fordert daher einen Gesellschaftsvertrag mit den Werten des Grundgesetzes als Fundament und gleichen Chancen auf Teilhabe als Ziel. Unterstützt wird sie in ihrem Vorhaben durch die Friedrich-Ebert-Stiftung. Ihr konkreter Vorschlag lautet: „Ein Einwanderungsgesetz mit klaren Regeln, interkulturelle Öffnung in allen Bereichen, faire Zugänge zu Ausbildung und Arbeitsmarkt für alle, Integrationskurse massiv ausbauen, Einbürgerungen erleichtern. Genauso erwarten wir aber auch von jeder und jedem die klar erkennbare Anstrengung, teilhaben zu wollen und sich einzubringen“, schreibt sie im Tagesspiegel.

Klingt plausibel, wären da nicht die unterschiedlichen Vorstellungen der einzelnen Parteien zum Thema Integration. Während Schulz und die SPD einen neuen Ansatz für die Teilhabe von Zuwanderern fordern, also bessere Chancen, mehr Beteiligung und den Abbau von Diskriminierung, fordert die Union einen harten Umgang mit denen, „die sich nicht integrieren wollen“ und droht sogar mit Entzug der „Aufenthaltsberechtigung“. Der Fokus liegt für CDU/CSU auf dem Erwerb der deutschen Sprache. Die Linke lehnt vor allem eine Einwanderungs- und Integrationspolitik ab, „die Rechte danach vergibt, ob Menschen den richtigen Pass hat oder als 'nützlich‘ für Unternehmen gelten“. FDP ist für doppelte Staatsbürgerschaft und klar gegen „Assimilation“: „(...) wir lehnen es prinzipiell ab, wenn eine Mehrheit versucht, dem einzelnen Individuum ihre Kultur aufzuzwingen.“ Auch die Grünen positionieren sich deutlich gegen Abschottung und für eine offene Gesellschaft. Anders sieht das die AfD. Die Partei fordert nach dem „Abstammungsprinzip“ in Deutschland geborenen Kindern von Migranten die Staatsbürgerschaft zu verweigern und spricht sich gegen den Familiennachzug aus. Zusätzlich sollen in Deutschland lebende EU-Bürger vier Jahre lang aus dem Sozialsystem ausgeschlossen werden.

 

Fazit: Wir müssen reden!

Es gibt keine einheitliche Forschung, keinen Generalschlüssel zum Thema Integration. Die Politik ringt nach einheitlichen Maßnahmen. Es bleibt also wichtig, dass sich jeder selbst darüber Gedanken macht, was er oder sie unter einer deutschen Gesellschaft versteht. Denn Integration ist ein dynamischer Prozess, der jeden von uns betrifft und von der gesamten Gesellschaft mitgestaltet wird. Und nur mit diesem Verständnis können wir Integration auch so gestalten, dass jeder von uns davon profitiert. Integration muss gemeinsam gedacht werden, von Spitzenpolitikern, Behördenmitarbeitern, freiwilligen Helfer bis hin zum Nachbarn.

 


Quellen:

Studie zu Integration des Studie des Forschungsbereichs beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) und der Robert Bosch Stiftung.

Studie zur Lebenswirklichkeit von Geflüchteten und Integration des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) und der Robert Bosch Stiftung.

Die Süddeutsche Zeitung über den Blick der SPD auf Einwanderung.

Die Süddeutsche Zeitung im Interview mit der Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan.

Zeit Online über Muslime.

Der Tagesspiegel über Leitkultur.

Wissenschaft im Dialog zum Begriff Integration.

Die Bundesländerbeauftragte bietet Informationsmaterial zum Thema Integration.

Studie zur Integration der Stiftung Mercator, der Universität Bielefeld und dem Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung.

Bericht zur Messung von Integration des Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR).

Zeit Online zu den Plänen der möglichen Koalition bezüglich Flüchtlingsunterkünften und Integration. 

Die Position der CDU/CSU zur Asyl- und Migrationspolitik.

Titelbild: CC Rick Barrett