Woher kommt die Energiewende? Was wird und muss sich durch sie verändern? Gerd Rosenkranz vom ThinkTank Agora Energiewende gibt im Interview Antworten und erklärt, warum niemand ein Recht darauf hat, dass alles bleibt, wie es ist.
Chancen nutzen und optimistisch sein - was bleibt auch anderes übrig?
Dass die Energiewende kommt, ist keine Frage mehr. Offen ist, wie sie unser Leben verändert.
Agora Energiewende ist eine unabhängige Denkfabrik, die sich mit Fragen des globalen Klimaschutzes beschäftigt. Mit Wissenschaftlern und Politikern sucht sie nach Ideen, wie ein Stromsystem aussehen muss, das auf Erneuerbaren Energien basiert. Agora Energiewende wird gefördert von der Stiftung Mercator und der European Climate Foundation. Gerd Rosenkranz ist Werkstoffwissenschaftler und befasst sich bei Agora Energiewende vor allem mit der Zukunft der Kohleversorgung. Zuvor hat er als Journalist beim Spiegel und der taz gearbeitet und war Pressesprecher der Deutschen Umwelthilfe.
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Wo kommt denn die Energiewende her?
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Viele Leute heute denken, dass die Energiewende 2011 beschlossen worden ist, nach der Katastrophe von Fukushima. Das ist jedoch ein Irrtum. Das Wort Energiewende stammt aus einer Publikation des Ökoinstituts. Das Buch hieß „Energiewende” und ist 1980 erschienen. Damals ging es um eine Zukunft ohne Atomkraft. Da war noch nicht die Rede vom Klimaschutz oder der Kohle. Das zeigt: Die Idee hat einen sehr langen Vorlauf. Ursprünglich war die Überschrift: „Den harten oder den weichen Weg“. Der harte Weg war die Atomkraft, später auch die Kohle, und der weiche war Erneuerbare Energien und Effizienz. Das ist bis heute geblieben. Aber die Begrifflichkeiten haben sich seitdem verändert.
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Was hat sich zwischen 1980 und heute alles getan?
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Die erste Etappe war die Anti-AKW-Bewegung, die aus der Alternativbewegung hervorgegangen ist. Die Alternativbewegung war auch eine romantische Bewegung, die aus den Städten und zurück aufs Land hinaus wollte. Da ging es um sehr viel mehr als um Energie – das waren Fragen des Lebensstils, die sich dann am Thema Atomkraft verdichtet haben.
Das war übrigens auch der Gründungsimpuls für die Grünen. Es gab damals lange Diskussionen in dieser Szene, ob es vernünftig ist, eine Partei zu gründen oder ob das der Bewegung die Kraft nehmen würde, weil eine Partei dann in den Parlamenten domestiziert worden wäre. Manche glauben, dass es genauso gekommen ist. Aber zunächst mal kamen Grüne in den Bundestag und 1998 dann auch an die Regierung.
Das Ergebnis war zweierlei: Zum einen kam der Beschluss über den Ausstieg aus der Kernenergie. Der wäre, wenn er so gelaufen wäre, wie ursprünglich geplant, etwa zu demselben Zeitpunkt vollzogen worden, wie er heute auch vollzogen wird. Es gab kein genaues Enddatum, aber irgendwann zwischen 2020 und 2023 bzw. 2025 sollte das letzte Kraftwerk abgeschaltet werden. Zum anderen wurde im Jahr 2000 von der rot-grünen Regierung das Erneuerbare-Energien-Gesetz verabschiedet. Das Gesetz ist seitdem häufig novelliert worden, hat aber sozusagen den Boom der Erneuerbaren Energien ausgelöst. Es schaffte attraktive Investitionsbedingungen und ermöglichte dadurch eine Massenproduktion, die mit sinkenden Kosten für Photovoltaik, Windenergie und die Entwicklung der Technologien einherging – in einer Art und Weise, die wir uns damals alle nicht haben vorstellen können.
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Und was ist danach passiert?
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Danach gab es vor allem während der Regierungszeit von Schwarz-Gelb einen Rückschritt, als beschlossen wurde, die Laufzeit für die Kernenergie zu verlängern. Darüber ist im Oktober 2010 entschieden worden und am 1. Januar 2011 trat der Beschluss in Kraft. Dagegen gab es massiven Widerstand – nicht nur von der Opposition, sondern auch im Lager der Regierungsparteien. Deshalb hat die schwarz-gelbe Regierung diese Laufzeitverlängerung damals in jede Menge Watte verpackt. Diese Watte bestand unter anderem darin, dass die Atomkraftwerkstreiber für eine Laufzeitverlängerung ihrer abgeschriebenen Kraftwerke etwas zahlen müssen – zum Beispiel in Form der Brennelementsteuer. Und dass man gesagt hat: Dies ist eigentlich der Eintritt in das Solarzeitalter und wir wollen bis 2050 bestimmte Ziele erreichen. Und die waren durchaus ambitioniert. All das war natürlich ein Versuch, die Laufzeitverlängerung dem Wahlvolk – aber auch den eigenen Parteien – zu vermitteln. Und im März 2011 kam dann Fukushima. Daraufhin wurde das Ganze wieder zurück genommen, die Laufzeitverlängerung hat sich zerschlagen. Soweit eine List der Geschichte, wie das passiert ist.
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Welche Bereiche betrifft die Energiewende?
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Es gibt erfolgreiche und weniger erfolgreiche Bereiche. Am erfolgreichsten ist der Stromsektor. Obwohl er nicht den größten Energieanteil hat, ist er elementar, weil aus ihm 40 Prozent der Treibhausgase kommen.
Aber natürlich reicht es nicht aus, nur Treibhausgase im Stromsektor einzusparen, wenn man sich anguckt, wo wir hinwollen im Jahr 2030 oder 2050. Bis dahin müssen wir insgesamt 80 bis 95 Prozent der Treibhausgase einsparen. Nach Paris werden wir uns eher auf eine 95-Prozent-Welt hinbewegen als auf eine 80-Prozent-Welt und dann bleibt praktisch für die Stromversorgung kein CO2-Ausstoß mehr übrig. Das liegt daran, dass es zum Beispiel in der Landwirtschaft und den Industrieprozessen auch physikalische Vorgänge gibt, die man nicht ändern kann. Deshalb ist die Reduktion in diesen Sektoren auf vielleicht 60 Prozent begrenzt. Noch schlechter vorangekommen sind wir im Mobilitätssektor. Inzwischen sind die Emissionen aus dem Verkehrssektor praktisch exakt gleich wie 1990. Und der Pfad, auf den man sich mal begeben hat – nämlich die Autos im Wesentlichen so zu lassen, wie sie sind, und nur mit biogenen Kraftstoffen fahren zu lassen – hat sich als nicht nachhaltig erwiesen. Uns fehlen dafür einfach die Agraranbauflächen, die wir dann woanders beanspruchen. Dort gibt es dann die Konkurrenzen mit der Nahrungsmittelproduktion, es gibt Artenschutzprobleme und so weiter. Das heißt, biogene Kraftstoffe werden immer begrenzt bleiben. Und wenn sie eingesetzt werden, dann in Bereichen, in denen es keine anderen Alternativen gibt, beim Fliegen zum Beispiel.
Deshalb ist die Konsequenz, dass wir langfristig die CO2-freien Stromerzeugungstechnologien auch im Bereich Heizen, im Bereich Mobilität einsetzen. Das läuft unter dem Schlagwort Sektorenkopplung und bezeichnet im Wesentlichen die Entwicklung der Elektromobilität.
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Aus welchen Gründen hat die Politik Instrumente wie das EEG-Gesetz und seine Vorläufer eingesetzt?
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Sie spielen wahrscheinlich auf das Stromeinspeisungsgesetz an, das ist 1990/91 zum ersten Mal verabschiedet worden. Das war interessant, denn damals gab es ja auch eine CDU-CSU-FDP-Regierung und dieses Gesetz hat eigentlich festgelegt, dass die Betreiber von Erneuerbarer Energie-Anlagen eine auskömmliche Vergütung von den großen Energieunternehmen bekommen. Dieses Gesetz ist von einzelnen Bundestagsabgeordneten aus allen Fraktionen gepusht worden. Es gab damals sozusagen eine parteiübergreifende Initiative: Hermann Scheer spielte da eine große Rolle bei der SPD, Josef Fell und Michael Ruhstädt bei den Grünen. Aber es gab auch einen CSU-Abgeordneten, der eine kleine Wasserkraftanlage in Bayern betrieb und dafür sehr, sehr wenig Geld von den Stromunternehmen bekam, in deren Netze er einspeiste. Und so haben diese wenigen Einzelkämpfer ihre Fraktionen überzeugt und das mehr oder weniger gegen die Regierung durchgesetzt. Die Regierung hat das dann akzeptiert, allerdings mehr unter dem Gesichtspunkt: „Die sollen ruhig mal ihre Spielwiese haben.“ Kein Mensch hat geahnt, dass das eine Entwicklung nehmen würde, die die Energiewirtschaft in ihren Grundfesten erschüttern wird. Das ist nicht allein durch das Stromeinspeisungsgesetz gelungen, aber es war sozusagen ein Anfang.
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Wie erklärt sich der Erfolg dieser Instrumente?
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Der Erfolg liegt darin, dass sie demjenigen, der eine Anlage bauen will, garantiert, dass er über einen Zeitraum von 20 Jahren für jede eingespeiste Kilowattstunde einen bestimmten Betrag bekommt. Es ist in Wirklichkeit etwas komplizierter und gestaffelt, aber er weiß praktisch in dem Moment, in dem er die Anlage errichtet, dass er für jede Kilowattstunde einen bestimmten Preis bekommt. Er weiß auch ungefähr, wo der Wind weht und wie lange im Jahr die Sonne scheint. Und deshalb ist für ihn das Investitionsrisiko sehr überschaubar. Das wussten natürlich auch die Banken und haben deshalb gerne investiert. Auch für die Banken waren die Ausfallrisiken relativ klein, weil sie für 20 Jahre diese sichere Vergütung hatten. Das ist in diesem Gesetz festgehalten. Das war der eine Punkt, der es so attraktiv gemacht hat.
Und der andere ist, dass Strom aus Erneuerbaren Energien Vorrang hatte vor allem anderen Strom. Das heißt, wenn nicht irgendwie der Netzzusammenbruch droht, haben die Erneuerbaren Energien Vorrang vor Kohlestrom, vor Atomstrom und so weiter. Das ist bis heute so. Natürlich werden diejenigen, die diese ganze Entwicklung nicht wollen, immer versuchen, den Vorrang für die Erneuerbaren Energien zu beenden, um damit den Prozess zu verlangsamen. Heute wird dagegen argumentiert: „Naja, in der Einführungsphase mussten die geschützt werden, aber jetzt haben Erneuerbare Energien im Stromsektor den größten Anteil und jetzt müssen wir ihnen ihre Privilegien langsam mal nehmen".
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Welche Folgen hat das EEG auf technologischer Seite gehabt?
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Natürlich war von Anfang an der Anspruch: Wir wollen irgendwann die Energieversorgung dominieren, also brauchen wir Massenproduktion. Und wenn wir Massenproduktion haben, dann wird es mehr oder weniger automatisch kostengünstiger. Man muss sich vorstellen, dass das Prinzip der Photovoltaik ja seit 100 Jahren bekannt ist und zuerst in Satelliten eingesetzt wurde, wo Geld gar keine Rolle spielte. In Satelliten konnte die Kilowattstunde auch 1.000 Euro kosten – das war völlig egal im Vergleich zu den Kosten, einen Satelliten ins All zu schießen. Das waren die ersten Entwicklungsschritte.
Diejenigen, die PV-Anlagen hergestellt haben, haben natürlich mit dem technischen Fortschritt auch gut verdient. Und die, die zuerst Photovoltaikanlagen aufs Dach geschraubt haben, kriegen immer noch an die 50 Cent pro Kilowattstunde. Das hat die Energiewende natürlich auch teuer gemacht und diesen Rucksack schleppen wir zumindest für begrenzte Zeit mit uns herum.
Man kann darüber streiten, ob das vernünftig war, denn in allen anderen Bereichen wird die Technologieentwicklung über den Forschungsetat oder über private Forschungsbudgets bezahlt. In Fall der Photovoltaik haben die Stromverbraucher praktisch die gesamten Entwicklungskosten getragen und tragen sie noch. Aber das Ergebnis ist, dass die Photovoltaik heute in immer mehr Ländern die günstige Form der Stromerzeugung wird.
Man kann darüber jammern, wie teuer das für die Stromverbraucher ist, also die privaten Haushaltsstromkosten in Deutschland. Die Preise bei uns sind ja mit die teuersten in Europa und auch mit die höchsten in der Welt. Aber das ist letztlich, auch wenn das niemand geplant oder als solches deklariert hat, das erfolgreichste Entwicklungshilfeprogramm, was dieses Land jemals aufgesetzt hat.
Denn die Photovoltaik ist auf der ganzen Welt sehr günstig geworden. Bezahlt haben das in ganz wesentlichem Maße die deutschen Stromverbraucher. Wir haben viele Jahre immer wieder gefordert: „Man muss das in Afrika anwenden, dort ist viel mehr Sonne.“ Aber in kleinen Insellagen war es auch dort unbezahlbar. Inzwischen ist es bezahlbar und sogar günstiger als alle Stromgeneratoren, die es bisher gab. Das ist ein wahnsinniger Erfolg.
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Photovoltaik war durch das EEG ein Erfolg – auch für die deutsche Industrie, die an der Entwicklung beteiligt war. Wie ist das mit der Windkraft?
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Wenn Sie den Kilowattstundenpreis nehmen, dann ist die Windenergie in Deutschland sogar noch günstiger. Das sehen sie an den Vergütungen, die liegen bei der Windenergie irgendwie im Durchschnitt bei acht Cent pro Kilowattstunde, bei der Photovoltaik bei zehn bis zwölf. Bei der Windenergie hat es eine vergleichbare Kostenentwicklung gegeben, aber sie ist trotzdem etwas anders. Bei der Solarenergie kommt das daher, dass die Anlagen so billig geworden sind. Bei der Windenergie sind einfach die Anlagen sehr viel effektiver und sehr viel größer geworden. Als Aloys Wobben, der Gründer von Enercon, in seiner Garage angefangen hat, haben die 50 Kilowattanlagen gebaut und die ersten kommerziellen hatten wahrscheinlich etwa 250 Kilowatt. Das waren kleine Kaffeemühlen – aber sie funktionierten gut. Heute haben die gängigen, die Sie auf dem Land sehen, um die drei Megawatt und die großen auf dem Meer sechs bis acht Megawatt.
Zu glauben, man könnte in einem Industrieland wie Deutschland mit schnuckeligen kleinen Anlagen Häuschen versorgen, war wahrscheinlich eine Illusion. Klein sind sie nicht, unsichtbar sind sie auch nicht. Und Leute, die vielleicht den Unterschied zur Kohle oder zur Atomenergie nicht so durchschauen, finden die Anlagen natürlich nicht schön. Und es gibt ja auch gar keinen Zweifel daran, dass sie das Lebensumfeld auf dem Land optisch verändert haben.
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Die Energiewende in Deutschland allein bringt in der globalen Perspektive mit Hinblick auf den CO2-Ausstoß wenig. Welche Bedeutung und Schlagkraft hat unsere Energiewende dann überhaupt?
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Zunächst stimmt das. Alleine in der Zeit in der ich mich mit dieser Frage beschäftige, ist der Anteil Deutschlands an den globalen Treibhausgasemissionen von etwa fünf Prozent auf jetzt nur noch knapp über zwei Prozent gesunken. Das heißt: Wenn wir hier morgen keine Emissionen mehr ausstoßen, wird das im Weltmaßstab kaum etwas ändern. Aber die Wichtigkeit dessen, was wir hier tun, das merken wir bei Agora Energie daran, dass jeden Tag irgendwelche Gruppen aus aller Welt auftauchen und sich die deutsche Energiewende erklären lassen wollen.
Die deutsche Energiewende bezieht ihre Bedeutung daraus, dass die viertgrößte Industrienation der Welt sich auf diesen Weg begibt. Wenn sie diesen Weg erfolgreich geht, also in ihrer wirtschaftlichen Potenz nicht zurückfällt, dann werden natürlich andere folgen. Es gilt leider auch der Umkehrschluss, wenn das in Deutschland oder in Europa schief geht, dann werden andere zögern.
Wobei es in der letzten Zeit Entwicklungen gegeben hat, die hoffen lassen: China hat sich wirklich auf den Weg begeben und ist beim Ausbau der Erneuerbaren Energien auf allen Feldern weit voraus. Das Positive in China ist, dass wahrscheinlich nicht mal der Klimaschutz der Haupttreiber für die Abkehr von der Kohle ist und die Hinwendung zu erneuerbaren Energien, sondern die Luftverschmutzung in den Metropolen. Das ist das, was denen viel mehr auf den Nägeln brennt als der Klimaschutz. Zumindest den Leuten, die in diesen Metropolen leben. Aber das beschleunigt den Prozess ungeheuer. Wenn sich China sich auf den Weg macht, dann ist das eben nicht mehr unerheblich im Weltmaßstab.
So ist das in jedem Land eine andere Geschichte. Die USA sind vor allem zum Klimaschützer geworden, weil man den Erdgas-Boom hat, also den Fracking-Boom. Darüber kann man streiten. Das Ergebnis ist aber, dass die Amerikaner jetzt als Treiber und nicht mehr als Bremse auftreten und natürlich auch bei der Technologieentwicklung vorne mit dabei sein möchten. Wenn die Amerikaner mit ihrer gesamten Engineer-Technik und Potenz eine solche Entwicklung einschlagen, dann beschleunigt das den Prozess weltweit.
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Wie weit ist die Energiewende im Bezug auf die einzelnen Sektoren Strom, Wärme sowie Effizienz und natürlich bei der Sektorenkopplung gekommen?
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Im Stromsektor sind wir mit Abstand am weitesten gekommen. Aber es ist auch allen klar, dass das nicht ausreicht. In anderen Sektoren ist die Umsetzung kleinteiliger und vielschichtiger, vor allem im Wärmebereich. Und im Bereich Mobilität gibt es in Deutschland eine Spitzentechnologie. Die deutschen Autobauer sind weltweit erfolgreich und zwar auf der Basis einer über hundertjährigen Entwicklung des Verbrennungsmotors. Natürlich ist da die Struktur konservativ. Deshalb besteht das Risiko, dass sich andere Länder, die keine so potente Autoindustrie haben, leichter mit der Elektromobilität tun. Das ist gefährlich für Deutschland.
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Gibt es Möglichkeiten, solche konservativen Strukturen auch in anderen Bereichen zu überwinden?
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Die Sektorenkopplung ist der mögliche Ausweg. In der Energiewende-Szene gab es den fixen Glauben, dass man mit Strom nicht heizt, weil das einfach ungeheuer ineffizient war. In einem Kohle-Kraftwerk in einem sehr aufwendigen Prozess Wasser heiß zu machen, mit dem heißen Wasserdampf Turbinen anzutreiben, daraus Strom zu machen, den man dann über hunderte von Kilometern irgendwo hinschickt, um dann mit diesem Strom kaltes Wasser wieder warm zu machen.
Jetzt haben wir die Situation in der Sie eine Photovoltaik aufs Dach schrauben und eine Batterie in den Keller stellen und Strom erzeugen, der Licht macht oder mit dem Sie kochen können oder mit dem Sie eben auch ihr Wasser warm machen können. Es gab vorher keine Turbine, die sich drehen musste und so weiter. Und so kann es eben kommen, dass der Strom so eine Art allumfassende Primärenergie wird. Das heißt alles nicht, dass wir nicht trotzdem effizienter werden müssen. Alle traditionellen Anwendungen mit Strom müssen effizienter werden. Wenn nur das einträte und keine neuen Anwendungen hinzukämen, dann würde der Stromverbrauch auch sinken. Aber da neue Anwendungen dazukommen, wird der Stromverbrauch insgesamt trotzdem steigen. Das ist übrigens einer der wenigen Hoffnungsschimmer für die traditionelle Stromwirtschaft. Die hat die Entwicklung erst bekämpft und dann verpennt. Jetzt hat sie sie begriffen – aber nun könnte es sein, dass der Markt besetzt ist.
Bisher hat man gedacht, der Markt ist gesättigt. Wenn es die Sektorenkopplung gibt, könnte sich aber doch nochmal eine Markterweiterung auftun. Sie ist auch vielleicht die letzte Chance für die Energiewirtschaft, mit den neuen Technologien doch noch Fuß zu fassen.
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Wenn jetzt die Energie zu größten Teilen aus Erneuerbaren Energiequellen kommt, dann ergibt sich ja das Problem, dass die Sonne nur tagsüber und auch dann nicht immer scheint und der Wind nicht immer weht. Wie kann man die Energie speichern?
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Das ist die fundamentale Veränderung. Wir werden in Zukunft vom Angebot her immer entweder zu viel oder zu wenig Energie haben – ganz selten genau so viel, wie wir gerade brauchen. Deshalb funktioniert das neue System fundamental anders als das alte. Bisher hat nur der Verbrauch geschwankt. Also mittags und abends wird mehr verbraucht als nachts und unter der Woche mehr als am Wochenende. Jetzt schwankt eben auch das Angebot und die große Aufgabe ist, ein System zu entwickeln, das genügend Flexibilität hat, um damit umzugehen. Jeder Laie denkt da als erstes an Speicher. Die spielen auch eine Rolle. Aber es gibt eine Reihe anderer Optionen, die sogar noch günstiger sind als Speicher. Das Erste, was man machen kann, ist, das Netz auszubauen. Ganz vereinfacht gesprochen: Irgendwo weht der Wind immer und mit großen Netzen hat man insgesamt weniger Ausgleichsbedarf. Das Zweite ist, die Erneuerbaren Energieanlagen so zu bauen, dass sie möglichst lange laufen. Das einfachste Beispiel: Die Photovoltaikanalgen wurden alle in Südrichtung ausgerichtet. Jedenfalls wenn man ein passendes Dach hat, das in Südrichtung geht, da so im Tagesverlauf am meisten Sonne ankommt. Wenn man jetzt anfängt, diese Photovoltaik zusätzlich in Ost-West-Richtung auszurichten, dann hat man eine nicht mehr ganz so hohe Mittagsspitze und dafür geht es morgens früher los und abends läuft es länger. Bei der Windenergie können Sie Anlagen bauen, die auf die Zahl der Kilowattstunden in relativ starken Windphasen optimiert sind. Oder Sie können sie so bauen, dass sie schon anspringen, wenn nur ein leises Lüftchen weht. Die Anlagen sind dann größer und die Generatoren kleiner.
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Diese Maßnahmen beziehen sich alle auf die Einspeisung von Strom. Was kann bei der Nutzung getan werden – zum Beispiel in der Industrie?
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Auch hier gibt es viele Punkte, an denen man ansetzen kann. Es gibt beispielsweise Kühlhäuser, die immer ein paar Stunden gekühlt werden und dann acht Stunden lang keinen Strom brauchen. Das kann man natürlich so schalten, dass das dann passiert, solange die Sonne scheint. Und so können Sie Industrieprozesse an vielen Stellen anders steuern. Die nächste Generation der Produktionsstraßen wird darauf Rücksicht nehmen, da bin ich mir ziemlich sicher. Die Digitalisierung ermöglicht das.
Aber am Ende werden Sie aber trotzdem Speicher brauchen, sowohl Batterien – in Kombination mit kleinen Solaranlagen für Haushalte – als auch Langzeitspeicher. Die müssen nicht zwingend in Deutschland sein: Wir könnten beispielsweise in Norwegen und Schweden Stromspeicherkraftwerke mit Wasser füllen, für Phasen im Winter in Deutschland, wo nicht genug Sonne scheint. Dann fließt das Wasser wieder herunter und treibt Turbinen an. Oder Photovoltaik in der Sahara und lange Leitungen nach Deutschland. Wir werden nach wie vor Importe brauchen, wie wir auch bisher unsere Energie zum größten Teil importiert haben.
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Die Energiewende stellt ganz neue Herausforderungen an die Stromnetze. Wie kann man die angehen?
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Die bestehenden Netze müssen um- und ausgebaut werden. Früher hatte man wenige große Kraftwerke, von denen aus der Strom in immer dieselbe Richtung aufs Land geschickt worden ist – bis zu den kleinsten Verbrauchern. Jetzt hat man sieben Millionen Anlagen und der Strom fließt in beide Richtungen. Da kann man sich auch als Laie vorstellen, dass das System sich verändern muss. Das ist aber zunächst etwas, was beim Verteilnetzbetreiber stattfindet, also beispielsweise bei den Stadtwerken. Das sind nicht die Leitungen, die umstritten sind – von denen merkt niemand etwas, die verlaufen alle unterirdisch.
Das, worüber wir diskutieren, sind die Übertragungsnetze: die Stromleitungen, die große Mengen von Strom über weite Strecken transportieren. Und da haben wir natürlich eine Veränderung. Traditionell gab es Stromerzeugungszentren, an denen sich auch die Industrie angesiedelt hat. In der Regel war das dort, wo die Kohle war. Also im Ruhrgebiet in Westdeutschland. Und dann später, als die Atomkraftwerke gebaut wurden, auch an Flüssen und in Süddeutschland.
Jetzt haben wir das Problem, dass die am besten einzusammelnde Energie in Deutschland die Windenergie ist. Die haben wir im Norden – aber die Industrie haben wir im Süden. Deshalb müssen Leitungen gebaut werden, die große Mengen Strom in den Süden transportieren. Oder wir errichten ein System, in dem der Strom die wahren Kosten widerspiegelt, die seine Erzeugung bewirkt – und da ist er in Zukunft im Norden billiger als im Süden. In früheren Zeiten wäre dann die Industrie nach Norden gezogen. Das ist heute schwer zu vermitteln und kein Politiker wird das fordern.
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Warum gibt es in der Bevölkerung so großen Widerstand gegen neue Stromtrassen oder Windkraftanlagen?
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Unter anderem rührt der Protest daher, dass die Stromtrassen die Landschaft verändern – noch dazu in Gegenden, in denen die Leute relativ wenig von ihnen haben, weil der Strom nur durchgeleitet wird. Das ist natürlich ein Problem, das auf Dauer gelöst werden muss. Trotzdem werden wir diese Leitungen brauchen. Das ist auch der Unterschied zur Windenergie, wo meist die ländlichen Regionen, in denen sie produziert wird, auch von ihr profitieren.
Aber trotzdem gibt es auch gegen die Windkraftanlagen Widerstand in der Bevölkerung, der zurzeit sogar wächst. Das liegt einfach daran, dass es immer mehr Windenergieanlagen gibt. Die Proteste sind auch in Ordnung und diejenigen, die Windenergieanlagen errichten, müssen auch darauf achten, dass sie das möglichst schonend machen, dass sie auf den Naturschutz achten. Aber man wird es nicht so machen können, dass wir dieses Energiesystem nicht mehr wahrnehmen. Das ist eine Illusion.
Natürlich gewöhnen sich die Leute auch an Veränderungen ihres Lebensumfeldes. Meine Tochter zum Beispiel ist 23 und seit frühester Jugend mit uns an die Ostsee gefahren. Die kann sich an Zeiten, in denen da nicht tausende Windräder standen, gar nicht mehr erinnern. Es gibt immer Widerstände, wenn sich das Lebensumfeld verändert. Überraschender wäre eigentlich, wenn es die nicht gäbe.
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Welche gesellschaftlichen Änderungen ergeben sich aus der Energiewende?
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Als meine Mutter eingeschult wurde, gab es noch kein Radio. Unser erstes Auto war eine Sensation, weil es uns plötzlich relativ gut ging. Da war ich vielleicht acht Jahre alt. Ich kann mich noch erinnern, wann ich das erste Mal ferngesehen habe. Ich kann mich erinnern, wann ich den ersten PC auf einem Schreibtisch eines Grünen-Politikers gesehen habe. Das war der erste, den ich in meinem Leben gesehen habe.
Auch durch die Energiewende wird es Veränderungen im Lebensstil geben. Zum Beispiel wird sich das Mobilitätsverhalten verändern. In den Städten tut es das schon, über Car Sharing etwa. Das ist ja alt, 20 oder 30 Jahre gibt es das schon und hat immer ein Schattendasein geführt. Jetzt boomt es richtig. Nicht in Folge der Energiewende, sondern in Folge der Digitalisierung – weil es heute einfach bequemer ist und weil Autos in Zukunft wahrscheinlich nicht mehr die Statussymbole sind, die sie waren. Die Differenz, die die Menschen voneinander immer haben wollen, läuft heute über elektronische Geräte wie iPads, über andere Dinge, die gerade angesehen sind.
Diese Veränderungen hat es immer gegeben und wird es immer geben. Die Energiewende ist nur ein Auslöser für Veränderungen des Lebensumfeldes. Das sage ich auch immer auf Veranstaltungen. Es ist eine Wertentscheidung, ob wir uns für Atomkraftwerke oder Kohle entscheiden oder für Erneuerbare Energien. Aber ein Grundrecht auf eine unveränderte Lebensumwelt über 80 Jahre hat niemand. Das muss einem klar sein. Und dann kann man seine Wertentscheidung fällen. Aber nicht auf der Basis: Ich will gerne, dass alles bleibt, wie es ist.
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Wird es denn möglich sein, dass Zwei-Grad-Ziel oder Drei-Grad-Ziel noch zu halten?
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Möglich ist es. Aber es wird natürlich mit jedem Tag, mit dem man sich national und international nicht verständigt, schwieriger und teurer. Und die Veränderungen werden rabiater. Wenn man sich anschaut, was die Klimaforscher auf der Basis schnöder Physik vorrechnen, kann man schon verzweifeln. Wenn man beispielsweise sagt: „Wir wollen mit einer Zwei-Drittel-Wahrscheinlichkeit das 1,5-Grad-Ziel einhalten – also das optimistischste Szenario, das berechnet wurde – dann können wir noch jetzt die Jahresbudgets in die Luft blasen, die dem entsprechen, was wir letztes Jahr verbraucht haben.“ Dann heißt das, die ganze Welt müsste in sechs Jahren aufhören. Das ist ziemlich unrealistisch. Wenn wir eine Zwei-Drittel-Wahrscheinlichkeit haben wollen, dass das Zwei-Grad-Ziel eingehalten wird, dann haben wir noch 21 Jahre auf gleichem Niveau. Wenn wir drei Grad nehmen und die Zwei-Drittel-Wahrscheinlichkeit wollen, sind wir, glaube ich, bei 60 Jahren. Aber drei Grad sind schon kritisch. Klar sein muss auch, dass wir den weltweiten Zenit des Ausstoßes möglichst schnell erreichen müssen, damit es danach wieder herunter gehen kann.
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Gibt es trotzdem noch Grund zur Hoffnung?
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Natürlich gibt es auch Hoffnungsschimmer. In den vergangenen beiden Jahren ist die Weltwirtschaft jeweils um drei Prozent gewachsen und der CO2-Ausstoß, der Treibhausgasausstoß insgesamt, ist nicht mehr gewachsen. Das hat es vorher nicht gegeben. Dahinter stehen viele Gründe, die aber vor allem in China und in den USA liegen. Zudem sind Erneuerbare Energien und Effizienztechnologien nicht mehr rein politisch getrieben. Bisher wurden Rahmenbedingungen so verändert, dass die Erneuerbaren Energien hier und da eine kleine Chance haben. In Deutschland mehr, in anderen Ländern weniger. Das hat sich gerade geändert. Inzwischen ist dieser Trend auch technologisch getrieben. Die Technologien sind real betriebswirtschaftlich und volkswirtschaftlich günstiger, als neue Kohlekraftwerke zu bauen oder gar ein Atomkraftwerk. Das bewirkt natürlich eine Beschleunigung der Entwicklung. Und es macht Hoffnung. 2013 wurde zum ersten Mal weltweit mehr neue Erneuerbare Leistung zugebaut als fossile und nukleare zusammen. Das heißt noch nicht, dass mehr Strom aus diesen Anlagen erzeugt wurde, weil sie eben weniger Stunden im Jahr laufen. Aber dieser Punkt ist auch bald erreicht.
Wir brauchen eine schlagartige Veränderung, die wir nicht voraussehen können, wenn wir gewinnen wollen. Auf der einen Seite gibt es viele Anzeichen dafür, dass sich die Entwicklung sehr beschleunigt und ein Selbstläufer wird. Auf der anderen Seite sprechen die Zahlen dagegen, dass es schnell genug geht. An diesem Punkt befinden wir uns im Moment. Doch in den letzten Jahrzehnten gab es viele Entwicklungen, mit denen niemand gerechnet hat. Insofern bin ich nach wie vor optimistisch. Was bleibt einem auch anderes übrig?