Über 200 Mal am Tag nehmen wir unser Smartphone in die Hand, sagt eine britische Studie: Zum liken, teilen, kommentieren von Bildern und Texten in den sozialen Netzwerken. Unsere Netzaktivitäten führen aus wirtschaftlicher Sicht zu einem digitalen Zwilling, oft auch zu einem Alter Ego in der digitalen Gesellschaft. Die Frage ist: Warum tun wir das, was wir tun? Und wie wird das unsere Gesellschaft verändern?

Unser Alter Ego in der digitalen Welt

Der Mensch als Homo Digitalis

Der „Homo Digitalis“ soll ein Erklärungsansatz sein. Nur, die eine Definition des digitalen Alter Egos gibt es nicht. Im Netz wimmelt es von ernstgemeinten und ironischen Darstellungen, die entweder den Teufel an die Wand malen oder durch die rosarote Brille in die digitale Gesellschaft schauen. So heißt es beispielsweise auf Stupidedia, der „sinnfreien Enzyklopädie“: „Der Homo digitalis lebt größtenteils vor dem Computer. Ein Leben außerhalb des Computers fällt ihm meist sehr schwer.“ Was hier satirisch-salopp daherkommen soll, ist nicht weit entfernt von der Realität: Ein Leben außerhalb des Computers fällt uns in der digitalen Welt schwer. Aber nicht, weil wir nur als blasse Gestalten vor dem Computer hocken und zocken, wie es der Stupidedia-Artikel suggeriert, sondern weil die Umwelt digitalisiert ist. Ob Stromzähler, Auto, Radio – wir sind umgeben von kleinen Computern mit eigenen, elektronischen Gehirnen. Sich der digitalen Welt zu entziehen ist kaum noch möglich – „es sei denn, du lebst im ländlichen Indien“, sagt Natasha Friis Saxberg. Die Dänin Friis Saxberg ist Entrepreneurin und entwickelt Digitalstrategien für Unternehmen. Bereits 2013 brachte sie ihr Buch „Homo Digitalis – from science to digital practise“ heraus. Vor allem aus beruflichen Gründen wollte sie verstehen, warum wir uns in der digitalen Welt so verhalten, wie wir uns verhalten. Warum wir liken, teilen, kommentieren. Um eine Antwort zu finden hat sie mit Neurowissenschaftlern, Psychologen, Soziologen und Philosophen gesprochen.

Homo Digitalis, ein soziales Wesen?

Auch, wenn Friis Saxberg vom Homo Digitalis spricht – eine neu entwickelte Gattung sind wir noch nicht. Die Entwicklung des Homo Digitalis beziehe sich vor allem auf soziale Aspekte und psychologische Veränderungen, erklärt Friis Saxberg. Der Homo Digitalis reflektiere sein digitales Verhalten nicht. Er tut es einfach, weil es ihm wichtig ist. Etwas in der menschlichen Natur scheint dieses digitale Verhalten zu beeinflussen, sagt Friis Saxberg. Nach ihren Recherchen hat nicht die Entwicklung der Technologie das digitale Verhalten geprägt, sondern menschliche Bedürfnisse. Menschen seien soziale Wesen. Das sei der Grund dafür, dass wir kommunizieren, lieben, dazu gehören wollen. Wer sich einsam fühle, werde krank. Und was hilft gegen Einsamkeit, gar psychischen Krankheiten, im 21. Jahrhundert? Soziale Netzwerke. Liken, teilen, kommentieren. Das Internet mache uns zu sozialeren Wesen, glaubt Friis Saxberg. Das Bild des blassen, bebrillten Nerds, der im Keller sitzt und zockt, ist out.

An dieser Stelle würde Alexander Markowetz wohl Einspruch erheben. Markowetz ist Informatiker und Medienwissenschaftler. Als Juniorprofessor hat er in den vergangenen Jahren das Smartphoneverhalten von 300.000 Nutzern in Deutschland analysiert. Der Tenor seiner Studie: Unsere digitalen Begleiter machen uns unproduktiv und unglücklich. In seinem Buch „Digitaler Burnout“ stellt er dar, wie wir alle 18 Minuten unsere aktuelle Tätigkeit unterbrechen, um aufs Smartphone zu schauen. Das mindere unsere geistige Leistungsfähigkeit. Wir können uns nicht mehr auf Gespräche mit unserem Gegenüber einlassen, uns nicht auf eine Kalkulation oder einen längeren Text konzentrieren, komplexe Zusammenhänge sind nicht mehr durchdringbar. Weil wir immer wieder herausgerissen werden, um Nachrichten zu beantworten. Liken, teilen, kommentieren. Wie versuchen, erklärt Markowetz, so viel wie möglich zur selben Zeit zu erledigen. Wir werden zu digitalen Workaholics, unzufrieden, weil wir das Gefühl haben, nichts mehr richtig zu erledigen und allem nur noch hinterherzuhecheln. Smartphones machen uns also krank – und nicht etwa gesund. Aber ist es so einfach?

Big brother gegen big mother

Ein weiteres Grundbedürfnis, vor allem in der analogen Welt, ist Sicherheit. Finanzielle Sicherheit, aber auch Sicherheit vor Kriminalität, Kriegen, Katastrophen. Und Sicherheit in der digitalen Welt? Immerhin ist Big Data ein Thema, bei dem Datenschützer immer wieder mahnend den Zeigefinger heben. Laut Friis Saxberg lässt sich Sicherheit in der digitalen Welt nicht von der in der analogen Welt unterscheiden. Und es lasse sich auch kaum sagen, wie weit Sicherheitsmaßnahmen des Staates akzeptiert werden. Friis Saxberg versucht es daher mit der Unterscheidung in „Big brother“ und „Big mother“. Big Brother folge den Bürgern auf Schritt und Tritt mit Überwachungskameras, Gesichtserkennung. Niemand wisse, wie weit diese Überwachung von Daten durch den Staat eigentlich geht. Eine Überwachung, die niemand gerne hat. Big mother hingegen schützt durch Überwachung den Bürger vor Angriffen von außen. Sie ist gerne gesehen. Grundsätzlich stellt Friis Saxberg aber auch fest, dass der Homo Digitalis sich zunehmen an Überwachung gewöhnt hat – es sei eben, wie es sei. Gerade deswegen sei es an der Zeit für mehr Verantwortlichkeiten und auch ethische Regulierungen in Sachen Überwachung und Sicherheit.

Auch der Homo Digitalis übernimmt Verantwortung – das ist für Friis Saxberg wichtig. Nicht das Smartphone habe Schuld, wenn wir uns mit unserem Gegenüber nicht mehr unterhalten, unsere Umwelt ausblenden. Die Verantwortung liege deutlich bei uns. Für unser digitales Verhalten gebe es keine technologische Entschuldigung.