Europa ist Geldverschwendung – ein Viertel aller Europäer sieht es so. Die Identifikation mit der Europäischen Union lässt zu wünschen übrig. Hat diese große Gemeinschaft das Potenzial, die von politischen Eliten so oft geforderte „Europäische Identität“ aufzubauen? Die französische Philosophin Janie Pélabay im Gespräch mit EurActiv.de.

Europäische Identität: Weg mit dem Traum?

Über europäische Identität und Politikverständnis

Janie Pélabay ist Philosophin, arbeitet am Centre de recherches politiques de Sciences Po (CEVIPOF) und unterrichtet am Institut d’études politiques de Paris (Sciences Po Paris). 2004 erhielt sie mit ihrer Dissertation "Les transformations contemporaines du libéralisme politique: Taylor et Habermas" den Doktorgrad der Université Paris IV-Sorbonne. Anschließend führte sie ihre weitere Laufbahn als Deakin Visiting Fellow nach Oxford, als Marie Curie Fellow nach Brüssel und später an die Université de Luxembourg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen u. a. in folgenden Bereichen: Cleavages und politische Streitfragen in Europa, Nation und Nationalismen, Politische Meinung, Demokratietheorie, Werte usw. Im Rahmen ihrer Arbeit am CEVIPOF beschäftigt sie sich u.a. mit der Frage der Rückkehr und Rückbesinnung auf gemeinsame Werte.

  • Frau Pélabay, nicht nur die Eurokrise macht der EU schwer zu schaffen. Das neue Eurobarometer zeigt, dass gerade einmal die Hälfte der europäischen Bürger in der EU-Mitgliedschaft einen Vorteil für ihr Land sieht. Für ein Viertel der Befragten ist die Union schlichtweg Geldverschwendung. All das vermittelt den Eindruck, dass die Europäer sich nicht mit der EU identifizieren können. Stecken wir in einer tiefen Krise oder ist das nur ein vorübergehendes Phänomen?

  • Ganz eindeutig stecken wir in einer europäischen Krise, die meiner Meinung nach über die Euro- oder sogar die Wirtschafts- und Finanzkrise hinausgeht. Betroffen ist eher das europäische Projekt an sich. Die Krise könnte man fast als existenziell bezeichnen, da die Europäer den Sinn der europäischen Integration nicht erkennen. Das Projekt, das die EU verkörpert, bleibt vage, schwer zu definieren und zu greifen.

  • Viele Wissenschaftler gehen das Problem an, indem sie eine Art „europäische Identität“ fordern.

  • Die Frage nach der europäischen Identität ist in der Tat wichtig geworden. Die neun Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft haben 1973 zum ersten Mal von ihr und ihrer Notwendigkeit gesprochen. An Bedeutung hat die Frage aber vor allem mit dem Vertrag von Maastricht gewonnen, als das Problem des „demokratischen Defizits“ der EU aufgekommen ist. Infolge der gescheiterten Referenden wurde in den öffentlichen Diskursen betont, wie wichtig es ist, eine „europäische Identität“ zu teilen, um die Legitimität der EU zu stärken. So gesehen könnte man von einer richtiggehenden „Politik der europäischen Identität“ sprechen. Die gemeinsame Identität ist zum politischen Ziel geworden. Das Problem ist nur, dass sie so viele unterschiedliche Dinge bedeuten kann.

  • Was kann sie denn bedeuten?

  • Man kann "europäische Identität" auf verschiedene Arten begreifen. Was versteht man denn erst einmal unter "Identität"? Im engeren Sinn bezieht sie sich auf etwas Identisches, etwas Ähnliches. So muss man sich fragen, ob wir bereits gleich sein müssen, um eine Identität zu teilen. Oder aber ob wir trotz Unterschieden eine Identität herstellen können. Und auf was bezieht sich „europäisch“? Auf einen Kontinent, eine Kultur, eine Geschichte, eine bestimmte Weltanschauung? Oder aber direkt auf die EU und die europäische Integration? Die theoretischen Ansätze variieren, je nachdem mit welcher Bedeutung die Begriffe „Identität“ und „europäisch“ hinterlegt werden.

  • Welche Ansätze gibt es denn?

  • Wer sich für die Suche nach einer „europäischen Identität“ ausspricht, dem schwebt oft ein kultureller Ansatz vor. Dessen Vertreter sind der Meinung, die europäischen Institutionen können nur unter der Voraussetzung gefestigt werden, dass die europäischen Völker und Bürger sich durch eine gemeinsame Identität verbunden fühlen. Diese kann aus Werten, Überzeugungen und kulturellen Zügen bestehen, die für die "europäische Kultur" als charakteristisch angesehen werden. Häufig zählt man auch die Ursprünge der europäischen Zivilisation dazu, ihre Wurzeln, vorwiegend religiöser Art, und das Erbe als Teil eines „europäischen Gedächtnisses“. In jedem Fall verbirgt sich dahinter die Idee, dass eine echte demokratische Vertiefung der EU mehr oder minder starke Formen kultureller Identifikation zwischen den Europäern erfordert.

  • Aber kann mit einer kulturellen Identität wirklich das demokratische Defizit ausgeglichen werden?

  • Sie haben Recht, der Zusammenhang zwischen der Bekundung einer kulturellen Identität und der Verringerung des demokratischen Defizits ist noch lange nicht selbstverständlich. Wer ihn herstellt, geht davon aus, dass eine politische Ordnung legitim ist, sofern die Institutionen die Identität des Volkes verkörpern. Man findet diesen Ansatz bei der Nationalstaatsbildung wieder: mit einer nationalen Identität, die um eine gemeinsame Sprache, Kultur und Geschichte herum erwächst.

EINE UNION GANZ NEUEN TYPS

  • Kann man ihn so einfach von der nationalen auf die europäische Ebene übertragen?

  • Das Problem besteht gar nicht so sehr darin zu wissen, ob man das Modell auf Europa übertragen kann, sondern darin, ob man es sollte. Es gibt keine "europäische Nation" und die EU ist nicht dazu bestimmt, ein Nationalstaat im Großformat zu werden. Man würde damit das Risiko eingehen, das zu verlieren, was ihre Einzigartigkeit ausmacht. Sie wird immer multinational, -kulturell und -konfessionell bleiben, ganz zu schweigen von der Sprachenvielfalt und den oft konfliktträchtigen Nationalgeschichten. Vor allem haben wir es mit einer Union ganz neuen Typs zwischen Völkern und Nationalstaaten zu tun, deren Verschiedenheiten bestehen bleiben und es auch bleiben sollten.

  • Außerdem darf man die Sorge der Europäer nicht vergessen, durch eine gemeinsame europäische Identität ihre kulturellen Besonderheiten zu verlieren…

  • Ja, diese Angst herrscht in vielen Mitgliedsstaaten. Aber auch Europa als solches ist nicht gegen die Angst vor dem "Anderen" gefeit. Das Thema „europäische Identität“ läuft zwangsläufig auf die Frage der Grenzen hinaus, sowohl im geographischen als auch im symbolischen Sinn. Wenn man von europäischer Identität redet, heißt das auf diese oder jene Weise zu definieren, wer zu „uns“ gehört und wer nicht. Und viele meinen, dass man sich "Anderen" entgegensetzen muss, um eine Identität herzustellen.

  • Wer können diese „Anderen“ sein?

  • Die Vereinigten Staaten, die Türkei, Russland, China… „Wir, die Europäer“ und „sie, die Anderen“. Man vergleicht zum Beispiel oft die EU mit den USA und sucht nach ihren Besonderheiten, vor allem in Bezug auf die Art und Weise, einen Staat zu führen. Die USA werden mit Macht und Stärke assoziiert, Europa eher mit Verhandlung und Recht.

  • Aber es sind sicher nicht nur Grenzen nationaler Art, die die Unterschiede zwischen den „Einen“ und den „Anderen“ ausmachen?

  • Es gibt auch die „Anderen“ im Inneren der EU. Zum Beispiel die Oststaaten fühlten sich ausgeschlossen, am Rande Europas. Außerdem wird in vielen Arbeiten der Fakt betont, dass die Nicht-EU-Ausländer, besonders die illegalen Einwanderer, innere „Andere“ geworden sind, also die von der europäischen Demokratie Ausgeschlossenen.

  • Glauben Sie, dass es angesichts all dieser Schwierigkeiten, die Sie genannt haben, möglich und wünschenswert ist, eine Art europäische Identität herzustellen?

  • An diesem Punkt ist es interessant, zwischen verschiedenen Konzepten einer europäischen Identität zu unterscheiden. Wenn man sie als kulturelle Identität versteht, fällt es in der Tat sehr schwer, sie aus all den Einzelteilen zu einem Ganzem zusammenzusetzen. Bestimmte Versuche der Kommission, von oben zu definieren, worin die europäische Identität besteht, sind nicht nur künstlich, sondern auch sinnlos. Es reicht nicht, ein Bild davon zu zeichnen, was die Europäer sind oder sein sollen, damit sie die Identität annehmen. Im Gegenteil kann sich das sogar als gefährlich erweisen, weil die EU in diesem Falle eine richtige Identitätspolitik betreiben würde. Wenn es das ist, was man mit der Suche nach einer europäischen Identität erreichen will, erscheint mir das weder möglich noch wünschenswert.

  • Gibt es denn eine Alternative?

  • Man könnte an eine europäische Identität im rein politischen und in gewisser Weise nicht identitätsbezogenen Sinn denken. In diesem Fall bezieht sie sich auf die Prinzipien, Regeln, Normen und Rechte, die die EU als politische Ordnung bestimmen: der Rechtsstaat, die Demokratie, die Toleranz, der Pluralismus, die Gerechtigkeit usw. Einige sprechen auch von europäischen Werten, doch der Werte-Begriff ist ambivalent, weil er sowohl kulturell als auch politisch aufgefasst werden kann. Ich vermeide ihn daher lieber. Wie dem auch sei, das Ziel besteht darin, sich über juristische und politische Prinzipien, Grundrechte und -pflichten einig zu werden, die für alle gelten. Dieser Ansatz ist also wesentlich weniger anspruchsvoll, da er von den Europäern nicht verlangt, eine gemeinsame kulturelle Identität zu teilen.

  • Wäre der Bezug auf eine politische Identität auf europäischer Ebene mit den nationalen Identitäten vereinbar?

  • Ja, genau, bei diesem Ansatz ist es möglich, die nationalen Kulturen beizubehalten. Indem man die politische von der kulturellen Integration trennt, hat man größere Chancen, die Vielfalt der Identitäten zu wahren, ob nationale, regionale oder andere. Hier stellt sich ein praktisches Problem. Kann man diese politische Identität entdecken, als wäre sie schon da? Oder muss man sie erst herstellen? Über welchen Prozess? Kann das von oben passieren oder muss man versuchen, sie von unten aufzubauen? Auch hier glaube ich nicht, dass man sie definieren und von oben aufzwingen kann. Wenn man das demokratische Defizit verringern will, kann man nur schwer befürworten, die Bürger derart aus dem Prozess auszuschließen.

EU-THEMEN SIND DER ’NEGATIVEN POLITISIERUNG‘ AUSGESETZT

  • Wie könnte man den Bürger mehr mit einbinden?

  • Es gibt natürlich kein Patentrezept, und alles ist sehr komplex. Trotzdem könnte man die Diskussionsräume über Europa weiter entwickeln, über Bildung oder öffentliche Foren. Auf alle Fälle sollte man sich hier einer Herausforderung stellen.

    Man sollte sich bewusst machen, dass sich die Bürger, wenn sie heute über „Europa“ oder „Brüssel“ reden, vor allem in Form von Kritik gegenüber der EU äußern. Europäische Themen sind der sogenannten „negativen Politisierung“ ausgesetzt. Die Herausforderung besteht darin zu sagen, dass der Ausdruck dieser Kritik als Motivation dienen könnte, um die Bürger dazu zu bringen, vielleicht nicht eine Identität herzustellen, aber ein politisches Projekt für Europa zu gestalten und sich zu eigen zu machen.

  • Welche konkreten Maßnahmen würden Sie vorschlagen?

  • Bevor man Maßnahmen in Betracht ziehen kann – was nicht meine Absicht ist –, sollte man erstmal den Traum aufgeben, sich auf eine hypothetische „europäische Identität“ zu einigen. Die würde die Probleme der EU übrigens überhaupt nicht lösen. Vielmehr sollte man sich bewusst machen, wie vielfältig die Europavisionen und die Erwartungen an die EU doch sind. Natürlich ist es notwendig, sich über die grundlegenden Prinzipien der EU als politische Gemeinschaft zu verständigen. Trotzdem sind diese gemeinsamen Prinzipien vor allem Kontroversen ausgesetzt, die die nationalen Grenzen überschreiten und nicht viel beachtet werden.

    Also, warum geht man nicht, statt diesen unmöglichen Konsens über eine europäische Identität anzustreben, von unterschiedlichen Auffassungen des europäischen Projektes aus, um politische Einigungen zu erzielen? Man sollte weder die Debatte noch unterschiedliche Meinungen fürchten.