Gibt es eine europäische Identität und ist sie stark genug, die derzeitigen Herausforderungen zu überstehen? Politikwissenschaftler Thomas Risse gibt im Interview Antworten.
Werte wollen verteidigt werden
Europa hat das Potenzial, die Krisen zu überwinden. Es muss nur genutzt werden.
Thomas Risse ist Professor an der Politischen Fakultät der Freien Universität Berlin. Dort erforscht er unter anderem die transformative Kraft Europas, transnationale Identitäten und die europäische Öffentlichkeit. (Foto Jan Pauls)
- Gibt es denn eine europäische Identität?
Ja, die gibt es. Man spricht von einer kulturellen Identität: Das bezieht sich auf gemeinsame Geschichte, gemeinsame kulturelle Erfahrungen. Der Ausdruck ist zum Teil auch religiös konnotiert, mit "christliches Abendland" zum Beispiel. Dann gibt es eine politische Identität Europas, die sich in den letzten 50 Jahren herauskristallisiert hat. Sie bezieht sich auf die Europäische Union. Und zwar auf die Europäische Union als ein offenes, liberales, demokratisches und auch marktwirtschaftliches System. Zwar gibt es diese gemeinsame Identität, aber sie wird in den einzelnen europäischen Ländern sehr unterschiedlich interpretiert. Europäische Eliten in fast allen Ländern versuchen, die Europafrage in eine nationale Geschichte einzubetten. Die deutschen politischen Eliten zum Beispiel haben seit dem Zweiten Weltkrieg versucht, Deutschland in Europa zu konstruieren. Dabei haben sie alles was gut an der neuen Deutschen Bundesrepublik ist — liberal, offen, tolerant, Menschenrechte — auf Europa projiziert. Sodass Europa das Gegenbild war von der deutschen nationalistischen, militaristischen, Nazivergangenheit. In Frankreich war das anders: Die französischen Eliten haben das Europabild an das republikanische Frankreich-Bild geknüpft. Das heißt, es gibt sicherlich große Überlappungen, aber wie das politische Europa jeweils verstanden wird, das ist national doch unterschiedlich.
Woraus hat sich diese kulturelle Identität Europas entwickelt? War das ein bewusster Prozess, der von den Eliten gesteuert wurde, oder war es ein Zusammenwachsen von Völkern im Friedensprozess?
Ich würde sagen beides. Natürlich können Sie nicht Identitäten von oben verordnen. Das muss auch Resonanz in eigenen Erfahrungen finden. Aber gerade nach dem Zweiten Weltkrieg haben die politischen Eliten — in Deutschland, Frankreich, Italien und den Niederlanden — angefangen, dieses neue Europa zu konstruieren. Und das hat natürlich auch eine gewisse Resonanz gefunden. Das heißt, es muss einerseits etwas zusammenwachsen, aber auf der anderen Seite kann man bewusst versuchen, zu steuern.
Sind die populistischen Strömungen wirklich so stark, wie sie momentan wahrgenommen werden, oder gibt es eigentlich mehr Menschen, die sich als Europäer fühlen, als solche, die sagen, sie seien ausschließlich Deutsche?
Verschiedene Daten legen offen, dass die Deutschen, die sich auch als Europäer fühlen, nach wie vor eine große Mehrheit sind – etwa 50 bis 60 Prozent der Bevölkerung. Aber es gibt eine Minderheit von 20 bis 30 Prozent, die sich ausschließlich mit dem eigenen Nationalstaat identifizieren. Diese Minderheit hat es immer gegeben. Neu ist, dass sie politisch mobilisiert werden. Plötzlich tauchen politische Strömungen auf, die beispielsweise antieuropäische und fremdenfeindliche Einstellungen in der politischen Öffentlichkeit thematisieren.
Ist es einfacher, nationale Gedanken in eine Identität zu gießen als ein großes europäisches Konstrukt?
In einigen Ländern ist es sicherlich einfacher. Zum Beispiel Großbritannien: Hier hat es nie den Versuch gegeben, die britische oder englische Identität als eine europäische zu konstruieren. Die eher nationalistischen Kräfte hatten dann leichtes Spiel. Ich glaube, in Deutschland ist das eine ganz andere Geschichte. Man sieht, wie sich auch die AfD abmüht, dann doch ein bisschen europäisch daher zu kommen. Sie konstruieren sich nicht als komplett anti-europäisch, sie wollen auch keine "Deutschland-raus-aus-der-EU-Kampagne". Sie wollen ein anderes Europa. Sie haben verstanden, dass sie Europa nicht einfach aus dem deutschen identitären Kontext herausnehmen können. Die andere Frage ist, ob man diesen Leuten das Feld überlässt, also die Diskurshoheit in der Öffentlichkeit.
Wie könnte dagegen gehalten werden?
Durch eine doppelte Strategie. Zum einen müssen wir die Ängste der Leute thematisieren, die jetzt mobilisiert werden. Dabei geht es nicht nur um Europa, es geht auch um Globalisierung. Wir haben das in den USA mit der Wahl von Donald Trump genauso erlebt: Viele Leute fühlen sich als Verlierer der Globalisierung, deren Ängste und wirtschaftlichen Befürchtungen muss man ernst nehmen. Zum anderen muss man in der Öffentlichkeit auch klar Kante zeigen und sagen, wofür wir stehen, wofür Europa steht, und eben auch für diese Politik werben.
Wenn Eliten in diesen aufkommenden Debatten schweigen und sich damit nicht offensiv auseinandersetzen, dann geraten wir ganz schnell in die Defensive und kommen aus dem Diskurs nicht mehr raus. Es geht dabei um Gefühle, nicht um reale, objektive Daten. Wenn Sie glauben, zu den Verlierern zu gehören, dann nützt es nichts, wenn ich Ihnen erzähle: "Aber ihr Nettoeinkommen hat doch in den letzten drei Jahren um zwei Prozent zugenommen". Das geht am Thema vorbei.
Vieles sind gefühlte Befürchtungen. Trotzdem muss man diese ernst nehmen. Man muss sich überlegen, was man machen kann, um diese Menschen abzuholen. Natürlich gibt es einen harten Kern von Rassisten, Xenophoben und anderen Menschen in Deutschland, die erreichen Sie nicht mehr. Sie sind abgetaucht, haben im Internet ihre eigene Welt. Es ist verlorene Liebesmühe, dagegen einen liberalen Diskurs zu fahren.
Wichtiger ist die Gruppe von Leuten, die man nicht als Neonazis beschimpfen kann, die aber empfänglich sind für solche Einstellungen. Sie kann man durch geduldiges Zuhören, durch geduldiges Argumentieren möglicherweise wieder zurückgewinnen.
Ist das ein Auftrag der Medien, hier meinungsbildend zu wirken, oder ist das Aufgabe der politischen Führung?
Medien haben natürlich eine politische Verantwortung. Das geht damit los, dass man Fakten besser prüft, weil sich sonst irgendwelche Gerüchte blitzschnell verbreiten. Dafür sind Journalisten da. Es ist wichtig, dass da ein journalistischer Filter ist, der Informationen aufbereitet, der auch ein bisschen Hintergrund gibt, der den Leuten ein vermittelt, wie man die Dinge sehen kann. Aber ich wäre sehr vorsichtig, Medien sozusagen einen liberalen Kampfauftrag zu geben.
Gibt es einen Unterschied zwischen den Wählern in den USA und Europa, oder funktionieren dann letztlich doch alle gleich?
Ich glaube, die Spaltung der Gesellschaft in Menschen, die gegenüber Europäisierung und Globalisierung eine positive Einstellung haben und Menschen, die davor Angst haben, geht quer durch alle westlichen Gesellschaften. Gleichzeitig erleben wir, dass diese Ängste in allen westlichen Ländern jetzt auch mobilisiert werden. Trump ist das letzte Beispiel, die Brexit-Befürworter haben genau das Gleiche gemacht. Der Versuch, diese Furcht vor der Globalisierung zu kanalisieren, sich einzuigeln und die Zeit zurückzudrehen, das sehen wir überall. Ob bei Le Pen in Frankreich, Hofer in Österreich, die AfD in Deutschland oder eben Trump in den USA.
Sind solche Ereignisse wie der Brexit oder die Wahl von Trump auch eine Chance, weil es eine Art Weckruf sein kann?
Ja. Irgendwann müssen die liberalen Eliten aufwachen und anfangen, das, wofür man steht und woran man glaubt, auch zu verteidigen. Weil sonst am Schluss keiner mehr da ist, der das verteidigen kann.
Wird das Projekt Europa weltweit als Vorbild gesehen?
Ja, auf jeden Fall. Und zwar gerade wenn man einen Schritt zurücktritt: Wir erleben gleich mehrere existentielle Krisen der europäischen Integration. Das ging mit der Eurokrise los; am Ende wurde entschieden, dass man Griechenland nicht aus der Eurozone entlässt, auch wenn es dafür viele ökonomische Gründe gegeben hätte. Das war eine politische Entscheidung. Ich würde nicht sagen, dass wir über die Eurokrise hinweg sind, aber wir sind aus dem Krisenmodus raus. Auch beim Thema Migration hat Europa sich erst einmal zerlegt und zerlegt sich immer noch. Aber ich kann mir vorstellen, dass wir eine europäische Lösung finden werden. Man kann seine Augen nicht davor verschließen. Dann der Brexit: Die verbleibenden 27 Länder machen nicht den Eindruck, dass sie dem britischen Vorbild folgen wollen, im Gegenteil. Ich glaube, dass Länder, in denen Rechtspopulisten in der Regierung sind — Polen und Ungarn zum Beispiel — sehr genau beobachten, was in Großbritannien passiert und sich dann überlegen, ob ein Exit wirklich eine Option für sie ist.
Haben die Eurokrise und die Flüchtlingskrise auch das Potential, Europa zu stärken?
Aus der Eurokrise sind wir halbwegs gestärkt herausgekommen; immerhin bewegen wir uns langsam in Richtung einer gemeinsamen europäischen Wirtschaftspolitik. Wir haben jetzt eine Bankenunion, wir steuern auf eine Fiskalunion zu. Darüber redet vor allem in Deutschland fast niemand, weil Deutschland da große Kompromisse gemacht hat. Viele in Deutschland, vor allem in der Bundesregierung, wollten das eigentlich nicht, aber da bewegen wir uns hin. Bei der Frage der Flüchtlinge stehen wir vor der Herausforderung, einerseits klar zu machen, dass nicht jeder, der ankommt, gleich politisches Asyl bekommt, andererseits können wir hier nicht die Festung Europa machen, das nützt auch nichts. Das ist mit der europäischen Identität absolut unvereinbar, wenn Tausende von Menschen im Mittelmeer sterben.Wir werden da einen politischen Weg finden müssen.
Definiert sich die europäische Identität durch Offenheit und nicht durch Abgrenzung?
Genau. Das wird gerade versucht. Viele der rechtspopulistischen Kräfte in Europa wollen gar nicht mehr zurück in den Nationalstaat. Sie versuchen, eine Art nationalistisches Europa zu konstruieren. Also ein abgeschottetes Europa, das sozusagen die eigenen liberalen Werte und die eigene Toleranz vergisst. Es wird darüber gestritten, welche Art von Europa wir in Zukunft wollen.
In welche Richtung tendiert die Mehrheit aktuell?
Im Moment hat man den Eindruck, dass das liberale Europa unter Beschuss ist. Die eher rechtspopulistischen Kräfte versuchen, die Oberhand in der Öffentlichkeit zu gewinnen. Aber die schweigende Mehrheit steht immer noch auf der anderen Seite. Auch sie muss irgendwann mobilisiert werden. Die liberalen Eliten haben die Verantwortung, diesen Diskurs nicht sich selbst zu überlassen, sondern sehr deutlich zu sagen, warum wir eigentlich die europäische Integration haben, warum es Vorteile bringt, wenn Bürger ohne Pass von Berlin nach Athen reisen können. Das sind nicht nur wirtschaftliche Vorteile. Es ist absurd, dass die britische Regierung jetzt versucht, die Vorteile des Binnenmarktes ohne die Personenfreizügigkeit haben zu wollen. Aber genau das geht nicht. Insofern hängt dieses weltoffene liberale Europa durchaus auch mit dem wirtschaftlich offenen Europa zusammen.
Kann sich daraus über kurz oder lang eine noch engere politische Einheit bildet?
Da wäre ich ein bisschen zurückhaltend. Jetzt immer noch von diesen "Vereinigten Staaten von Europa" zu träumen, steht im Moment nicht zur Debatte. Wir haben in Europa schon seit längerer Zeit ein gutes politisches Gleichgewicht zwischen zwischenstaatlicher Kooperation mit den Ministerräten und dem Europäischen Rat auf der einen Seite und den supranationalen Institutionen auf der anderen Seite, wie der Kommission, dem Europäischen Parlament, dem Europäischen Gerichtshof, der Zentralbank. Und dieses Gleichgewicht, das funktioniert auch einigermaßen. Es knirscht immer mal wieder und es ist mühsam, weil man für politische Entscheidungen sehr viele Leute ins Boot bekommen muss. Ich würde nicht raten, dass wir weiter in die Richtung Vereinigte Staaten von Europa, europäische Regierung, gehen sollten. Das ist aus meiner Sicht auch nicht notwendig, damit Europa die weltpolitischen Herausforderungen, vor denen es im Moment steht, bewältigen kann.